Mit anbrechendem Tage hatte auch Don Alonzo sein Lager verlassen und bestieg sein Roß. Seit dem gestrigen Abend preßten sein Herz nie empfundene Gefühle, zum ersten Male war die Heiterkeit, die ihn bis dahin selbst auf den ernsten Schritten des Lebens begleitet hatte, von ihm gewichen, aber dennoch hatte diese Schwermuth etwas Süßes für ihn, so daß sie sein ganzes Innre mit fortriß und er sie mit keiner freudigen Aufwallung verdrängen mochte. In Gedanken vertieft, achtete er nicht der Schönheit des Morgens, nicht der blühenden Orangen=, Citronen= und Granathaine, mit Weinreben und Oelbäumen durchwachsen und vom holdseligen Dufte ihrer farblos bescheidenen Blüthen durchweht. Sein Pferd trug ihn zu den Ruinen der alten Stadt IlliberisEine antike römische Stadt in der Nähe des heutigen Granada., von der romantisch der Weg ins wilde Felsgebirge führt, der Schmelz kleiner Bergwiesen aber das Auge erquickt. An den Ruinen stieg er vom Pferde, welches er an ein Gebüsch duftenden Bentiscus'Wahrscheinlich eine Fehlschreibung für "Lentiscus", die Mastixstrauch, ein immergrüner Strauch des Mittelmeerraums. band. Wild liegen Fels= und Mauerklumpen hier wie durcheinander geschüttelt; aus netzförmigem Gemäuer wachsen Blumensträuße und an die Felssteine scheinen Blumengewinde befestigt.
Die morschen Denkmäler gefallener menschlicher Größe mit ihren Aussichten auf die ewig sich verjüngende und vorzüglich in diesen Gegenden unvertilgbare Natur erzeugen in uns jenes Gefühl der Winzigkeit unsers Thuns und Treibens, unsers Mühens und Wirkens gegen die schaffende Kraft ihrer geheiligten Werkstatt; nur dann, wenn das Gemüth nach innen gekehrt ist, vermögen sie einen unvergleichlichen Zauber unserer Einbildung mitzutheilen.
Alonzo gedachte, auf den Trümmern ausruhend, noch einmal des lieblichen Wesens, er fühlte sein Herz glühend bei diesem Gedanken, und war es auch nicht der Besitz des Mädchens, der seine Wünsche erregte, ihr Leben mit allen Kränzen der Freude zu schmücken, mit seiner Hand ihr alle Annehmlichkeiten, wenn auch stille, aber ihr gerade willkommene zu reichen, das war es, was seine Einbildung beschäftigte. Aus der engen Beschränkung ein solches Wesen in ein heiteres Dasein zu führen, ihm nie empfundene Seligkeit zu bereiten, dem hellen Geiste den Born des Wissens und der Kunst zu öffnen, dem klaren Auge die schöne Natur zu zeigen, seinem tiefen. Herzen die Göttlichkeit menschlicher Tugend, menschlicher Freundschaft und Liebe zu offenbaren und es eine ungewohnte Welt sehen, erkennen und empfinden zu lassen — die Verschönerung eines andern Wesens durch unser eigenes bestes Selbst — das sind Wünsche, die nur der edlen Brust entkeimen können, die auch der Stempel wahren Geistesreichthums und ächter Liebe sind.
Jetzt erst empfand er das Drückende der Armuth; waren ihm sonst Glücksgüter gleichgültig, jetzt wären sie ihm wünschenswerth gewesen. Zwar hatte ja der Freund deren in Menge, und nie hatte Alonzo angestanden, bei den Bedürfnissen eines jugendlichen und frischen Lebens, seines Freundes Gut als das Seinige anzusehen, indem er es als eine Versündigung an der über die gewöhnlichen Rücksichten erhabenen Freundschaft hielt, die kleinlichen Geist und Körper vergiftenden Sorgen aus falschem Stolze allein zu tragen; auch war Jehudah zu edel, um nur im Entferntesten anders zu denken, er hätte in seiner Lebensansicht eben so gut von Freundes Gut Gebrauch gemacht, wenn es ihm nöthig gewesen wäre. Aber für eine Versündigung an der Wahrheit hielt es Alonzo, mit fremdem Gute sich den Schein des Wohlthäters zu geben, wo ein freigebiger Mann wie Abarbanel zu helfen bereit war. Aber, wenn auch nicht mit äußeren Gütern so spannen sich die Gedanken in ihm weiter aus mit der Kraft des Geistes kannst du ihr nützen, mit treuer Wacht die zarte Pflanze beschirmen, das war Ritterpflicht in einer Zeit, wo die Gefahr jeden Schritt des Israeliten belauerte. Alonzo fühlte sich erhaben in dem Gedanken, ein Schutzgeist ihrer Tugend zu werden und jede Kränkung abzuwehren, — das war seiner würdig, dazu fühlte er sich allein fähig und berufen. In Gedanken vertieft, störte ihn ein Geräusch in seiner Nähe. Er forschte nach und sah einen alten. Mauren im Gesträuche einer Oelbaumstaude, der ihn ängstlich anblickte.
„Habt keine Furcht, Alter, wie hat Euch der frühe Morgen schon unter die Trümmer geführt?“
Der Alte sah ihn wild an. „Trümmer, Trümmer, Christ, bist ein Narr, ist gar schönes Haus, wohnt meine Edla dort, wohnt BoabdelinAuch bekannt als Boabdil oder Abu Abdullah Muhammad XII., der letzte nasridische Emir von Granada. dort, wohnt MahometDer Prophet Mohammed, Begründer des Islam. dort, wohnt Allah dort, wohnt Alles dort auf Trümmern, Christ!“ Bei diesen Worten klopfte er wüthend auf die Brust und zerriß die weiten Aermel seines Oberkleides. Alonzo sah schaudernd, daß er einen Wahnsinnigen vor sich habe.
„Wer ist Edla?“ fragte er theilnehmend.
„Edla! schöne Edla!“ phantasirte der Alte wehmüthig und sich ihm vertrauungsvoll nähernd, raunte er Alonzo in's Ohr: „Haben sie dem Manne am großen Kreuze geopfert. Dort! Dort!“ und zeigte lautkreischend auf das Orangenthal vor Granada. Alonzo erblaßte, als die Sonne das abgemagerte arabische Gesicht beleuchtete, in das tiefe Runzeln gefurcht waren und von dem ein langer grauer Bart herabhing, als der Alte die schmalen Lippen öffnete, die blendend weißen Zähne aufeinander biß und sein gellendes Geschrei zu wiederholten Malen fortsetzte.
„Sind Männer mit schwarzem Kleid noch in Granada? sind Teufel, Christ, lauter schwarze Teufel, haben's Todtenlied gesungen, Christ!“ Hier fing der Alte mit gräßlicher Stimme ein geistliches Lied zu conterfeien an, das Alonzo bis in's innerste Mark seiner Nerven drang. Er wollte sich entfernen und gab dem Alten in Gedanken eine Handvoll MaravedisEine alte spanische Münze von geringem Wert.. Dieser streute sie aus. „Will säen, Freund, will säen, sollst sehen, sie wachsen, schöner Mais, bin hungrig, Christ.“
Alonzo wollte ihn hinunterführen, aber der Alte. riß sich wild los und mit hastiger Eile über die Trümmer und Felsen kletternd und das seine nackten Füße ritzende Dorngesträuch nicht achtend, schrie er in die Berge hinein: Edla! Edla! Tochter Edla! und verschwand im Dickicht.
Alonzo wanderte in sich gekehrt zurück nach Granada, sein Roß frei hinter sich folgen lassend. Des jungen Spaniers Gemüth fing an den Ernst des Lebens zu empfinden.