In der großen SynagogeJüdisches Gotteshaus, Zentrum des religiösen und oft auch des gemeinschaftlichen Lebens der jüdischen Gemeinde. drängten sich die Andächtigen, Klagelieder ertönten von den hohen Tribunen der Sänger herab, die Greise saßen weinend auf dem Estrich des Tempels, ihre Thränen flossen auf die Rollen, die die alterthümlichen Gesänge der verlorenen Freiheit enthielten, vom ersten Wehgeschrei des trauernden JeremiasJeremia, ein Prophet des Tanach (Hebräische Bibel), der zur Zeit der Zerstörung des Ersten Tempels in Jerusalem (586 v. Chr.) wirkte und in seinen Klageliedern den Untergang der heiligen Stadt betrauerte. auf dem Steinhaufen JerusalemsHauptstadt des antiken Königreichs Judäa und heilige Stadt des Judentums, deren Zerstörung durch die Babylonier im Jahr 586 v. Chr. und später durch die Römer im Jahr 70 n. Chr. zu zentralen Traumata der jüdischen Geschichte wurde. bis zu der Zeit, wo Europa's Krieger von Neuem nach den Trümmern im kleinen PalästinaHistorische Region im Nahen Osten, die als das Land Israel und als Heiliges Land für Juden, Christen und Muslime gilt. strömten, und die KreuzzügeMilitärische Expeditionen christlicher Armeen zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert zur Eroberung Jerusalems und des Heiligen Landes. Während dieser Zeit kam es vielerorts zu Verfolgungen und Massakern an jüdischen Gemeinden in Europa. nach dem heiligen Grabe mit der Niedermetzelung der Nachkommen des Volkes eröffneten, nach dessen Lande die Andacht sie fortriß. Stille folgte auf Wehklagen, man horchte auf, am Fuße der heiligen Lade begann ein Greis das Lied Jehudah Hallevi'sJehuda Halevi (ca. 1075-1141), einer der bedeutendsten hebräischen Dichter und Philosophen des Mittelalters, der in Spanien lebte und später nach Jerusalem pilgerte, wo er der Überlieferung nach starb., das er gesungen unter den Mauern der heiligen Stadt, sein letztes Lied, bevor er unter den Hufen des Pferdes eines Arabers seinen Geist aushauchte. Der Gesang hörte auf, aus der LadeDer Toraschrein (hebräisch: Aron ha-Kodesch), ein Schrein oder Schrank in der Synagoge, in dem die Torarollen aufbewahrt werden. hob man die GesetzesrollenDie Torarollen, Pergamentrollen mit dem handgeschriebenen Text der fünf Bücher Mose, die in der jüdischen Tradition als heilig gelten und im Gottesdienst vorgelesen werden., und verlas das lebendige Wort des Herrn, das die Augen erleuchtet und die Gedanken erhebet. Jeder horchte auf die Geschichten der alten Tage, wo Israel vertrieben ward vom Grabe seiner Väter, nachdem der Tempel in Flammen aufgegangen und Zions Burg zerstört war. Funfzehn Jahrhunderte waren indeß in das große Meer der Zeit gesunken, und noch fanden die brennenden Füße der Vertriebenen keine Ruhestatt in des Feindes Landen, und die Gefangenschaft hörte nicht auf.

Siehe, da dringt eine Jungfrau durch die Versammlung, eine Tochter Israels, und ihre Schönheit wird angestaunt von den versammelten Frauen und Männern, es ist DinahDie jüdische Frau, die von Arama beschützt wurde und in die sich der christliche Hauptmann Alonzo verliebt hat. In dieser Szene zeigt sie sich als mutige und inspirierte Führungspersönlichkeit für ihre Gemeinschaft., Nissa'sDinahs verstorbene Mutter, die in den Träumen und Erinnerungen Aramas im vorherigen Kapitel erwähnt wurde. Tochter. Sie küßt die Rollen des Gesetzes, in den Händen des greisen Lehrers, sie besteigt die Stufen am Altare, sie erhebt ihre Stimme:

„Männer Israels! ihr staunet ob der Kühnheit eines Weibes, welches waget, die heilige Stätte zu betreten, aber keiner Entweihung des Heiligthums zeihet ihr mich an dem heutigen Tage, wo wir weinen und klagen, dasselbe verlassen zu müssen. An solchem Tage gewinnt die schwache Jungfrau Kraft zu reden vor ihrem Volke, und die Worte des Propheten gehen in Erfüllung: Deine Jünglinge werden Propheten und deine Töchter Weissagende werden. Noch einmal umfangen uns diese Mauern, schon ist die heilige Lade leer, und das Kleinod, das wir seit des Herrn Erscheinung auf SinaiBerg auf der Sinai-Halbinsel, wo laut biblischer Überlieferung Moses die Zehn Gebote von Gott empfing. bewahrt, ist ihr entnommen und in unsere Mitte gestellt; o daß es da lebe in unserem Herzen, und die Leuchte werde auf der finstern Bahn, die wir zu wandeln haben, daß es werde der Trost unsers Unglücks und die Hoffnung unsers Lebens. Des höchsten Gottes Gewitter umlagern unsere Häupter, da stehen wir verbannt und verstoßen vom Vaterlande, und wissen nicht, wohin den Fuß wenden, wie das verscheuchte Reh. Es geht der Priester mit dem Volke, der Herr mit dem Knecht, die Frau mit der Magd, der Reiche mit dem Armen. Der Schrecknisse viele sind seit langer Zeit über uns ergangen, aber der Herr sprach immer: Geh' hin, mein Volk, in deine Kammer, und schließe die Thür nach dir zu; verbirg dich einen kleinen Augenblick, bis der Zorn vorübergehe. Jetzt ist's anders. Was uns jetzt betroffen, es gilt nicht einen einzelnen Mann, nicht eine einzelne Familie, die einzelne Gemeinde, — es trifft das gesammte Israel in Spanien. Aber so spricht der Herr, der Heilige in Israel: Wenn ihr stille seid, so wird euch geholfen, durch Dulden und Hoffen werdet ihr stark sein. Auf, laßt uns das Geheiß erfüllen, laßt uns harren! Wahrlich, ich sage euch, die Hülfe wird nahe sein, es wird kommen der Bote des Herrn, er wird euch in Trübsal Brot und in Aengsten Wasser geben. Und eure Ohren werden hören die Worte hinter euch sagen: Dies ist der Weg, denselbigen gehet, sonst weder zur Rechten noch zur Linken, Der Weg aber ist der Weg der Demuth vor dem Herrn, der uns über die Wasser führen wird, wie er es durch die Wüste gethan. Lasset toben die Völker und der Erde Könige wider uns aufstehen, wir wollen ruhig Abschied nehmen von diesen Hallen, kein Blut beflecke die Pforten des Tempels, mögen sie hinnehmen unsere Häuser, wir lagern unter des Himmels ewigen Zelten, bis daß er Kunde schicket, wohin wir uns wenden, und die Brüder sich gesammelt. Keine Empörung, meine Brüder, Gottes Strafgericht wird sie treffen; er wird seine Meßschnur über dieses Land ziehen, daß es wüste werde, und ein Richtblei, daß es öde werde, daß ihre Herren heißen müssen Herren ohne Land, und alle ihre Fürsten ein Ende haben; und werden Dornen wachsen in ihren Palästen, Nesseln und Disteln in ihren Schlössern. Aber unsere müden Hände wird er stärken, und stützen das strauchelnde Knie, und unsere Wüste und Einöde wird lustig sein, und das Gefilde wird fröhlich stehen und blühen, wie die Lilien."

Jetzt durchbebte eine wehmüthige Freude die Gemeinde. Israel ist noch nicht verloren, so lange es Jungfrauen wie diese und Jünglinge wie Jehudah AbarbanelSohn von Don Isaak Abarbanel und ein wichtiger Charakter in der Novelle, der eine persönliche Entwicklung vom leichtsinnigen Jüngling zum verantwortungsbewussten Mann durchmacht. hat.

Aber die heiligen Kleinodien werden herausgetragen aus des Tempels Pforten, und weinend und wehklagend stürzt die Menge nach. Mit bloßen Schwertern gehen den Gesetzesrollen Jünglinge zur Seite, doch selbst die niedere Volksklasse weichet scheu und ehrfurchtsvoll zurück, denn Jeder fühlet trotz des Judenhasses, „daß die Lehre von ZionUrsprünglich ein Hügel in Jerusalem, später ein Synonym für Jerusalem selbst und in der jüdischen Tradition ein Symbol für das verheißene Land und die spirituelle Heimat des jüdischen Volkes. ausging, und das Wort des Herrn von Jerusalem."