Der Priester hatte sich nicht geirrt. Mit erneuerter Wuth und unerschütterlicher Ausdauer fochten und kämpften die Belagerer und das spanische Heer zeigte Wunder der Tapferkeit. Noch einige Werke waren zu erobern, noch wenige Punkte zu schwächen, und es konnte bei einem allgemeinen Sturm gelingen, in die Stadt einzudringen. Was Schwert und Geschütz nicht that, that der Hunger mit dem Gefolge schwerer, verwüstender Krankheiten. Aber noch war der Stolz des maurischen Königs nicht gebeugt, er sah das Verhängniß kommen, er wollte ihm entgegen gehen.

Am Krankenbette Nissa's sitzt die geliebte Tochter, ihre sanfte Hand faßt die des geprüften Mannes; sie fühlt die brennende Hitze, die den Kranken verzehret, sie sieht mit thränenden Augen in die hohlen aber noch glänzenden des Vaters, sie hört lauschend auf die heißen und schnellen Athemzüge der zerrissenen Brust. Seit zwei Tagen hatte sich der Armendiener nicht eingefunden, nur noch ein halbes Brod und ein Krüglein Wein sind die Erquickungsmittel des Kranken, die Erhaltung der holden Pflegerin. Still hatte sie sich am frühen Morgen aus dem Hause geschlichen, und während der Kranke eines kurzen Schlummers genoß, war sie zur großen Synagoge geeilt, wo die hagern Gestalten ihrer Glaubensgenossen für die Rettung der Stadt zum Himmel flehten. Daß ein Weib in den geheiligten Räumen erschien und sich vor dem Oberrabbiner niederwarf, um Hülfe für Nissa, den siechen Vater bittend, fiel den Andächtigen heute wenig auf, denn in den Tagen verzweiflungsvoller Noth vergißt der Mensch die kleinlichen Gesetze, die er sich selbst auferlegt und greift nach den ewigen, trostreichen Wahrheiten, die ihn sein himmlischer Vater lehrte. Darum schritt der ehrwürdige Oberrabbi zum Altar, nahm den Rest des Segensweines und übergab ihn den Händen der Jungfrau: „Das ist, meine Tochter, der Rest, den uns die Saracenen gelassen, er sei wie das heilige Oelkrüglein, das Judas Maccabäus im entweiheten Tempel fand, und das trotz seiner Winzigkeit acht Tage zum Brennen der ewigen Lampe aus reichte — er erquicke das Herz des frommen Kranken und versiege nie, bis Israel Rettung geworden oder er den neuen Wein des Lebens in jenen Höhen genießt, wo kein Kampf und kein Streit und keine Noth uns betrüben." Mit dieser Gabe kam sie nach Hause zurück.

Jetzt saß sie neben dem Vater. Draußen hatten die Donner des Geschützes nicht die Donner des Höchsten verscheucht, Gewitterwolken überzogen den Himmel, Blitze kreuzten sich, von den Gebirgen rollte das furchtbare Echo wieder, die Häuser wankten; das enge Gemach war wie von Feuer erfüllt. Nissa wachte auf.

„Der du mich gezogen aus Mutterleibe, erleuchte meine dunkle Bahn, sprach er leise. Meine Dinah, der Messias kommt."

Dinah glaubte, er spräche irre, sie blickte ihn mit angstvoller Miene an.

„Der Messias kommt noch heute, meine Tochter. Der Messias ist der Tod, der uns erlöset von dem Schmerze, der Messias ist die Auferstehung zum neuen, herrlichen Leben. Weine nicht, weine nicht, Dinah! der Messias ist der Retter, der mich führen wird meinen Weg. O thue mir kund den Weg des Lebens, in deinem Antlitz ist der Freuden Fülle, in deiner Rechten Seligkeit auf ewig!"

Auf dem Estrich war Dinah auf die Knie gesunken und während die Natur im Aufruhr tobte, sprach ihre Lippe ein heißes Gebet.

„Dinah," rief Nissa stammelnd, „keine Moschee, keine Kirche, keine Synagoge hat solches Gebet in ihren kalten Mauern vernommen, wahrlich, die Brust der keuschen, kindlichen Jungfrau ist der erhabenste Tempel der Gottheit. Muth, meine Tochter! sieh, es ist ein leichtes, im Glücke und dem ruhigen Gange des Lebens sich gleich zu bleiben, aber in den Tagen der Prüfung festzustehen und auszuharren, das ist gottgefällig!"

Er sank erschöpft in's Kissen zurück, aber nach wenigen Minuten fuhr er fort: „Ich übergebe dir, Tochter, hier vor dem donnernden Himmel und der erschütterten Erde, vor dem großen Unsichtbaren, übergebe ich dir aus meinen bewahrenden Händen fünf große Dinge — sie überwiegen die Schätze der Erde, meine Dinah! — ich übergebe dir dein unschuldiges Herz, — ich übergebe dir deine weibliche Ehre, die heilige Religion unserer Väter, das Andenken deines Vaters und — dein Schicksal. Die große Stunde schlägt nicht auf der Erde, die dich fragen wird, ob du diese großen Dinge erhalten oder verloren hast, aber sie wird deine künftige Seele mit der jetzigen vergleichen. Tochter! ich werde dann neben dir vor dem großen Vater stehen und er wird mich fragen, ob dieß die Dinah sei, die ich auf Erden zurückgelassen laß mich dann mein verlassenes Kleinod erkennen, wäre es unkenntlich, die Mühen meines Lebens und das Harren meiner Zukunft wäre vergeblich gewesen. — Doch sieh', er naht, der Bote des Herrn!"

Ein fürchterlicher Schlag erdröhnte. — Der Kranke fing an mit dem Tode zu ringen. Immer ängstlicher und kürzer ward das Athmen, immer stierer der Blick, kalt der Schweiß, zitternd des Lebens Pulse. Dinah rang die Hände. Kein barmherziger Bruder, deren sonst wohl viele den sterbenden Israeliten trostreich umgeben und seine letzten Athemzüge mit Gebet begleiten, war gegenwärtig, denn jeden hatte die Noth der Zeit bei Weib und Kind zurückgehalten, jeder hatte im eignen Hause Kranke und Sterbende zu pflegen und zu bewachen. Die Arme der Tochter hielten den sterbenden Nissa umschlungen, als wollte sie die sich frei machende Seele zurückhalten. Da lispelte der Sterbende die letzten Worte: „Und Jacob hatte vollendet seinen Söhnen den letzten Befehl, da legte er seine Füße zusammen im Bette und verschied und ward zu seinem Volke versammelt;" und wenige Minuten darauf: „Höre, Israel, der Ewige dein Gott ist ein einiges, ewiges Wesen!" — Nissa's Seele war der Erde entflohen. Dinah stand allein in der Welt.

Laß uns, mein Leser, das Bett des Todten, die weinende Tochter und die stille Klause verlassen. Draußen hat sich der Sturm gelegt, die Natur hat ihre erhabenen Scenen, aber auch ihre Pausen. Nur der Mensch lebt in einem ewigen, zerstörenden Kampfe.

Zitierempfehlung

Phöbus Philippson: Die Marannen. Kapitel 5. In: Philippsons.de. Digitale Edition der literarischen Werke von Ludwig und Phöbus Philippson, hg. v. Fabian Wilhelmi. URL: (Zugriff am: ).