Die Sonne sinkt im Abend nieder. Ein kühler Wind streift durch den Hain. Ich suche mir eine Ruhestätte. In der Nähe erblicke ich ein uraltes SacrumEin heiliges Gebäude oder Heiligtum., vor dem zwei Lorbeerbäume, an denen Jahrhunderte vorüber gezogen, zu schützendem Dach sich wölben. Plötzlich erhellt ein Flammenschein den nächtlichen Himmel, daß die Sterne erbleichen. Ueber die Stadt lagert sich eine dichte Rauchwolke, aus der bald eine Flammensäule emporsteigt. Ein lautes Getöse dringt aus der Stadt bis zu meinem einsamen Asyl. Die TubaEin römisches Blasinstrument, eine Art Trompete. tönt durch die Straßen, Sturm und Feuersbrunst verkündend. Ist auch über dich die Fackel der Zerstörung entzündet, AntiocheiaAntiochia am Orontes, eine bedeutende hellenistische Stadt im antiken Syrien.? die du gefrohlocket bei dem Brande Jerusalems, Hohn sangest bei dem Untergang Juda's, ist die Stunde des Gerichts so bald angebrochen? Immer mehr schwankt die Nacht vor der röthlichen Glut, schon zittern die Strahlen auf dem grünen Glanze der Blätter, und das Getöse des Aufruhrs dringt immer gräßlicher durch das nächtliche Schweigen.
O, brennet nur, ihr stolzen Palläste der Syrer, die nur Sklaven, ihr Götzentempel, die nur Heuchler beherbergen, was will eure Vernichtung gelten vor der, so ich gesehen, eure Trümmer reichen nicht hinauf zu den Trümmern der ZijonburgDie Festung auf dem Berg Zion in Jerusalem.. Ich höre die Rüstungen der römischen LegionäreSoldaten der römischen Legion. aus der Ferne klirren, Boten kommen über den Orontes zu den Söldnern, welche den Hain umringen, sie abrufend, und nur wenige Wächter umringen mein Asyl. Doch welchen Theil hatte ich an den Schicksalen der Feinde? Ruhen will ich unter den schützenden Aesten vor dem Sacrum, während Jene sich abmühen im Kampf gegen das zerstörende Element. Nicht mir verbrennt, nicht mir zerstört es Etwas. Was ich besaß, ist verloren, was ich geliebt, getödtet, was ich geehrt, geschändet....
Da steht eine Gestalt vor meinem Lager; ihre weißen Gewänder schimmern durch die Nacht; dunkle Augen blitzen aus dem verhüllten Antlitz; sie faßt meine Rechte, sie winkt und zieht mich nach sich; sie öffnet die Pforte des Sacrums, und ich trete mit ihr in die finstre Halle des heidnischen Heiligthums. Schnell hat sie eine Fackel angezündet, der Schleier ihres Hauptes fällt hernieder, und ich erblicke eine Jungfrau aus Juda's Geschlecht. "Du kennst mich nicht?" spricht sie mit sanftem Ton. "Nein!" "Ich aber dich! Jojada's Sohn, du sollst mir folgen." "Wohin?" "Ob zur Rettung, weiß ich nicht, vielleicht zum Kampfe, zum Tode — aber doch in die Mitte unsrer Brüder." "Laß mich. Habe ich noch nicht genug? — Aber wer bist du?" "Meine Familie, aus dem Geschlechte Athaja'sVermutlich eine Anspielung auf einen biblischen Namen, möglicherweise Athalja., war wohnhaft in der heiligen Stadt, dort sah ich dich öfter an der Spitze deiner Genossen; vor dem Kriege zogen wir hierher; mein Vater ist der EthnarchEin Titel für einen lokalen Herrscher oder Verwalter einer ethnischen Gemeinschaft. der Juden zu Antiocheia. Der Brand Jerusalems brannte wieder in unsrer Brust, die Seufzer der Gefangenen sanken in unser Herz, wir halfen und retteten, wo wir konnten; auch als du tratest auf den Kampfplatz, waren wir verkleidet zugegen, mit dem Volke drangen wir über die Schranken, meine Hand leitete dich hinaus, meine Brüder trugen dich hierher. — Sahst du den Brand in der Stadt den Himmel röthen? Der Pallast des Prokonsuls liegt in Asche, das Stadthaus sinkt schon zusammen, und die Flammenbäche ergießen sich über die Stadt. Wer weiß, wessen Hand den ersten Balken entzündet? Aber ein Verräther seines Volks, AntiochusEin hellenisierter jüdischer Name, hier offenbar ein Verräter an seinem Volk., rannte durch die Stadt und schrie Verderben über uns, die Juden wären des Brandes Urheber, an ihnen sei Rache zu nehmen, und du seiest unter uns, und wollest Antiocheia vernichten! Der syrische Pöbel hat sich zusammengerottet, sein alter Haß hat sich aufgerichtet riesengroß, in Schrecken der Nacht. Sie lassen die Flamme ungestört wüthen, um nur wüthen zu können gegen uns. Hörst du das Geheul der Rasenden? Sie rasen gen Juda, die PhilisterEin antikes Volk, das an der südlichen Küste Kanaans ansässig war und in der Bibel häufig als Feind der Israeliten dargestellt wird. sind wach über uns. Unsere Häuser werden gestürmt, die Schläfer erschlagen, die Wehrlosen gemordet; Jerusalems blutrothe Nacht wirft ihren Schein auf uns. Auch wir haben uns geflüchtet in unser Heiligthum. Die große Synagoge, von Gräben und festen Mauern umgeben, hat uns schützend aufgenommen, und unsere Jünglinge sind bereit, sie zu vertheidigen mit ihrem Leben. Deiner haben Alle vergessen, nur ich nicht. Darum folge mir, ich führe dich sicher."
"Und was soll ich? — Siehe, ich glaube nun zu wissen, was werden wird. Der Brand Jerusalems soll sich fortpflanzen von Stadt zu Stadt, von Land zu Land. Allüberall, wo Israel weilet, soll es untergehen. Die alte Weissagung will sich nicht erfüllen. Der Gott Israels hat Anderes beschlossen. Antiocheia soll beginnen, DamaskosDamaskus, die Hauptstadt des heutigen Syrien. wird nicht zögern, EphesosEine antike griechische Stadt an der Westküste der heutigen Türkei. und SardesEine antike Stadt in der westlichen Türkei, einst Hauptstadt des lydischen Reiches. folgen, warum sollte JavanHebräischer Name für Griechenland bzw. die Griechen. schweigen, wenn AramBiblischer Name für Syrien und die umliegenden Gebiete. seinen Mordruf erhoben? So laß mich hier meinem Schicksal entgegensehen. Ich sah Untergang genug."
"Wenn du feige geworden, Amnon, spricht das Mädchen mit mächtiger Stimme, wenn das Fett der Knechtschaft schon dein Herz umwachsen: so laß dir sagen, daß es gilt: Syrer zu tödten, Römer zu morden! Was Rettung? Nicht gerettet wollen wir sein — aber gerächt! Noch die fernsten Geschlechter, die, so einst stehen auf dem Grabe Roms, sollen sagen: so ging Juda unter! so fiel es Verderben verbreitend, dem Verderben in die Arme! Komm, Mann, du sollst die Jünglinge wieder zur Schlacht führen, die Helden zur Vertheidigung. Ich gebe dir Mauern, bring' du dein Schwert!"...
Und mit fester Hand ergriff sie meine Rechte, und zog mich fort. Aus einer Nische holte sie Helm und Panzer, Schwert und Lanze. Dann führte sie mich durch den Hof in verfallenes Gemäuer. Mitten unter Trümmern war eine Fallthüre geöffnet. "Siehst du, sprach sie, hier bin ich hergekommen. Steige mit mir in den Schooß der Erde. Unter den Wellen des Orontes hinweg führt dieser Gang dich in das Herz der Stadt. Wenn wir hinaufsteigen, befinden wir uns im Hofe unsres Heiligthums. Einst war dies ein Tempel der DianaRömische Göttin der Jagd, des Mondes und der Geburt, entspricht der griechischen Artemis., und die Priester, zu heimlichem Gebrauch, gruben sich hindurch bis in das Haus der Priesterinnen der DaphneEin Vorort von Antiochia, berühmt für seinen Lorbeerhain und den Apollotempel.. SeleukosVermutlich Seleukos I. Nikator (358-281 v. Chr.), Gründer des Seleukidenreiches und der Stadt Antiochia. übergab es unserm Geschlechte, und unlängst erst ward der verschüttete Gang von uns aufgefunden und gereinigt." Wir schritten eilends vorwärts. Schweigen des Todes umgab uns. Plötzlich verlosch zischend die Fackel, von heruntersickerndem Wasser getroffen. "Gieb mir die Hand, Amnon, spricht schnell das Mädchen, ich leite dich. Israels Söhne und Töchter sind Brüder und Schwestern, und wo sie wandeln durch das Dunkel der Nacht, leuchtet ihnen das Licht ihres Glaubens." Ich schlug mit der Faust an die Brust: wo ist mein Glaube?