Die Gefahr war aufs höchste gestiegen. Um Mittag sank ein Theil der Mauer zusammen, die römischen CohortenEinheiten der römischen Armee, bestehend aus etwa 500-600 Mann. und der syrische Pöbel machten sich fertig, die Bresche zu besteigen. Was Waffen tragen konnte und Waffen hatte, bestieg die Mauer zum letzten Kampfe, ich selbst mit den tapfersten Jünglingen vertheidigte die Bresche. Seit zwei Sonnenuntergängen hatten wir keine Speise und kein Wasser mehr, dennoch ließen wir das Schwert nicht sinken. Alle umarmten sich wie Brüder, die Aussicht des Todes heiligte alle Herzen. Die Römer rücken heran, sie bilden ein festes SchilddachEine Formation, bei der Soldaten ihre Schilde über ihren Köpfen zusammenfügten, um sich vor Geschossen von oben zu schützen., die Griechen lassen ihre AlalaDer Kriegsschrei der antiken Griechen. vernehmen, die Syrer ihr Wuthgeschrei, der Boden schwankt unter dem Stampfen ihrer Füße. Schon haben sie die Bresche erstiegen, Andere auf Leitern die Mauer heran, der Kampf ist allgemein, ich stürze mit den Jünglingen den Feinden entgegen, auf der Bresche werden wir handgemein. Ich erblicke neben mir Schulamith in Waffenrüstung, ihr Anblick entzündet mich mit Löwenmuth, Alles sinkt in Vergessenheit in mir, Kampf und Tod der einzige Gedanke. — Schon häufen sich ringsum die Gefallenen, der Augenblick des Unterliegens scheint gekommen — — Da ertönen von ferne her Geschmetter der TubaEin römisches Blasinstrument, eine Art Trompete., das Schrillen der Pfeifen, das Schilderklappern eines großen Heeres. Näher wälzt sich ein mächtiger Freudenruf. "Titus ist da! Es lebe der Cäsar TitusRömischer Feldherr und späterer Kaiser (79-81 n. Chr.), der im Jahr 70 n. Chr. Jerusalem eroberte und den Tempel zerstörte., der Sohn des Imperators!" ertönt von den Lippen Hunderttausender. Dieser Ruf fesselt jeden Arm, das Schwert, zum Mordstoß erhoben, sinkt zurück. Auch aus dem Munde der verzweifelnden Juden erhebt sich ein Freudengeschrei. Der Zerstörer Jerusalems soll der Retter der Juden werden!
Titus nahet dem Kampfplatz. Auf milchweißem Rosse, in goldner Rüstung, aber mit gerunzelter Stirn. Er gebietet Ruhe. Lautlos steht die Menge. Er steigt vom Roß. Geschäftige Diener schlagen einen Sessel auf dem höchsten Punkte der Bresche auf. Er entbietet den Prokonsul und den EthnarchenEin Titel für einen lokalen Herrscher oder Verwalter einer ethnischen Gemeinschaft. der Juden vor sich. Maeseja, auf Schulamith gestützt, wankt hervor. Titus vernimmt Anklage und Vertheidigung. Der Verräther AntiochusEin hellenisierter jüdischer Name, hier ein Verräter an seinem Volk. mit einer Schaar Zeugen tritt vor den Cäsar. Laut wiederholt Antiochus, daß die Juden die Stadt angezündet. Auch mein Name wird genannt. Aber vor dem scharfen Blicke des Titus erbleichen die Zeugen, einer verweist auf den andern, von dem er es vernommen haben will. Die am lautesten geschrieen, verstummen ganz. Bald sind die Juden gereinigt von aller Schuld, und wüthend gebietet Titus, den Antiochus zum Richtplatz zu führen, PetusDer römische Prokonsul, der die Belagerung der Juden in Antiochia befehligte. seiner Würde zu berauben. Da dringen die Aeltesten der Stadt vor den Stuhl des Titus. Sie verlangen die Ausweisung der Juden aus Antiocheia, da sie mit ihnen nicht in Frieden zu leben vermöchten. Die syrische Volksmasse wiederholt mit dumpfem Geschrei das Verlangen. Aber Titus erhebt sich, und spricht: "Man hat ihnen zerstört, den Unglücklichen, wohin sie flüchten könnten, so müssen wir sie behalten."*"Auch diese Worte finden sich Jos . B.J. 7,14."