Wir standen am Sterbelager des ältesten Bruders Schulamiths, dem im Kampfe eine Lanze eine tödtliche Wunde gebracht. Einsam waren wir an demselben, denn die Noth hatte selbst die engen Bande der Gemeinde gelöst, und welche Familie hatte nicht ähnlichen Verlust. Schulamith hatte das Haupt ihres sterbenden Bruders an ihre Brust gelegt. Es war sein Wunsch gewesen, in ihren Armen seine Seele auszuhauchen, und mitten im Kampfe des Todes mit der ungebrochenen Jugendkraft blickte er oft dankbar in ihr thränenleeres Auge, das des Schmerzes desto voller war. Der alte MaesejaDer Ethnarch (Vorsteher) der jüdischen Gemeinde in Antiochia und Vater von Schulamith. war durch die Schrecken und Aengste, durch die Entbehrungen und Schmerzen, welche die letzten Tage gebracht, zu einem kraftlosen Greise geworden, der sich mit Mühe noch trug.
„Amnon, wirst du bei mir bleiben? sprach der Greis, als der Sterbende in einen kurzen Schlaf verfallen. Ich habe bald keinen Erstgebornen mehr, mein Joseph und HillelEiner der jüngeren Söhne Maesejas, benannt nach einem berühmten jüdischen Gelehrten. sind noch schwache Jünglinge: auf wen soll sich meine zitternde Hand stützen?"
Ich bleibe, wo ich bin, erwiederte ich, und wo man mich nicht von sich flößet.
„Du vergißt, Vater, fiel Schulamith ein, daß Amnon in Antiocheia nicht sicher ist, man kennt und verfolgt ihn hier."
„Antiocheia! sprach der Greis. Habt Ihr gehört, welcher neue Frevel geschehen? Als der Cäsar in das AmphitheaterEine ovale oder runde Arena mit aufsteigenden Sitzreihen, für Gladiatorenkämpfe und andere Spektakel. trat, empfing ihn der laute Jubelruf der Syrer. Aber als er freundlich gedankt, traten abermals Abgeordnete der Stadt vor seinen Stuhl, und baten, wenn die Juden bleiben sollten in Antiocheia, ihnen wenigstens die ehernen Tafeln zu nehmen, auf denen ihnen Gleichheit der Rechte mit den Syrern zugesichert, und die am Eingange der großen Synagoge aufgehängt sind. Titus blieb standhaft, und verweigerte es ihnen. Da stiegen Frevler in der Nacht durch die Bresche in das verlassene Gebäude, tödteten die alten Diener, welche darin wohnen und zerschlugen die Tafeln mit Aexten. Kein Jude wagt es, vor Titus zu treten, und ihm dies kund zu thun."
Wir schlafen über einem Erdbeben, das losbrechen wird, wenn Titus abgezogen.
„Ich habe heute die Gemeinde berufen lassen, um die EthnarchenwürdeDas Amt des Ethnarchen, des Vorstehers einer ethnischen Gemeinschaft. nieder zu legen. Mein Haupt und mein Arm sind zu schwach geworden, sie tragen. Aber Niemand gehorchte dem Rufe, ich blieb allein. Jeder weilt im verborgensten Theil der verfallenen Wohnungen, nur hie und da schleicht eine Schattengestalt aus den Trümmern hervor, und eilt rasch vorüber. Wehe dem Augenblicke, wo die Gluth von Neuem aus der Asche schlagen wird. Unsre Väter sündigten, sie sind nicht mehr: wir tragen ihre Schulden: Knechte herrschen über uns, Keiner entreißt uns ihrer Hand)."
„Israel, sprach Schulamith, hat sein Loos beendet in Asien. Es soll entwurzelt werden seiner Heimath, einer neuen Sonne soll es zueilen, die im Abendland längst aufgegangen. An den Strahlen dieser neuen Sonne soll es sich stärken und erhalten. Der uralte Haß Asiens gegen Juda ist das Werkzeug des Herrn, womit er den Ueberrest Israels nach Abend treibt, aus Asien verdrängt. In den alten Sitzen können wir nicht mehr weilen. Man hat uns zu lange gefürchtet, um uns unsre Niederlage zu verzeihen, zu lange bekämpft, um unsre Schwäche zu bemitleiden. Wer zurückbleibt, vernichtet sich selbst. In Asien kann Juda keine Ruhe mehr finden. Laßt uns nach dem Abendlande gehen!"
„Weh dem Greise, jammerte Maeseja, der noch wandern muß. Das Grab meiner ZillahDie verstorbene Frau Maesejas. soll ich hinter mir lassen, und mein SimonDer älteste Sohn Maesejas, der im Sterben liegt. begleitet mich nicht!"
Wenn Ihr ziehen wollet, sprach ich, wenn Ihr Asiens blutgerötheten Boden verlassen wollet, so geht nach AthenäAthen, die Hauptstadt des antiken Griechenland.. Dort, wo Morgen- und Abendland zusammentreffen, ist man gleichgültig gegen Beides. Ein Jude, der dort wohnte, und nach Jerusalem zum PassahDas jüdische Pessach-Fest, das an den Auszug aus Ägypten erinnert. kam, hat mir Gutes von dort berichtet. Es ist dort eine Gemeinde, nicht zu stark, um des Pöbels Blicke auf sich zu ziehen, nicht zu klein, um Ankömmlinge nicht gastlich aufnehmen zu können.
„Ich habe der Kostbarkeiten nur wenige gerettet, meine Länder muß ich zurücklassen, und seht euch um in dem zerstörten Hause, Syrerhände haben Alles zerschlagen. Soll ich betteln in meinem Alter, ich, Maeseja, der nur zu geben gewohnt ist?"
„Wir können arbeiten, Vater, sprach Joseph, sieh' unsre starken Arme, in Zeiten, wie unsre, sind sie die sicherste Habe."
„Vater, fuhr Schulamith fort, der Gott Israels wird sich uns nicht entziehen und uns nicht untergehen lassen. Daß wir sind, ist Beweis, daß wir sein sollen. Sollte Juda ganz umkommen, würden uns die Trümmer Jerusalems allesammt begraben haben. Lehrtest du es uns selbst nicht, als wir die heilige Stadt verließen vor ihrem letzten Kriege: der Gott Juda's hat seit Jahrhunderten im Voraus Haufen geführt aus Jerusalem nach allen Ländern, daß Juda nicht fallen solle mit Jerusalem. Der Herr zeigt lange vorher, was wir thun sollen, wenn wir es verstehen und befolgen. Wenn Dieser da sein letztes Lager gefunden, gehen wir nach Athenä."
Der Sterbende seufzte tief auf und fing wieder an zu röcheln.
„Und Du, Amnon?" frug Maeseja.
Wenn es gehen will, erwiederte ich, so gehe ich mit. Ihr habt wieder Bande geknüpft um mich, ich möchte sie nicht zerreißen. Das Weitere weiß ich nicht.
„Ja, Amnon, sprach Schulamith, du gehest mit uns, so der Herr will. Du bist meines Vaters Sohn geworden, und unser Bruder. Was der Herr dir bei uns aufgelegt, mußt du tragen. Wer wollte wandern ohne Ziel, und wo könntest du bleiben?"
Jetzt öffnete Simon die Augen, aber es war ein zerknickter Strahl in ihnen; seine Hand wollte sich heben, aber sie griff nur; die Seufzer folgten schnell, aber die Brust hob sich nicht mehr. Da floß ein rother Schaum aus seinem Munde, sein Haupt gleitete schnell von dem Busen Schulamiths herab, und fiel tief in die Kissen, und es war Alles still an ihm.
Wir waren aufgesprungen, und riefen stehend: „Höre, Israel, der Ewige unser Gott, der Ewige ist einig!Das "Schma Israel", eines der wichtigsten jüdischen Gebete (5. Buch Mose 6,4)." Schulamith sprach es mit, aber plötzlich brach sie zusammen. Ich hatte auf sie gesehen, und fing sie schnell in meine Arme auf. Sie lag in Todesbleiche an meiner Brust. Ich weinte, meine Thränen rannen auf ihre geschlossenen Augen, und ich wußte, daß es meine Thränen waren. — —
Da fielen starke Schläge auf die verschlossene Thüre. Der Ton, der durch die öden Hallen wiederhallte, sagte mir, daß er von FascesRutenbündel mit einem Beil, die von Liktoren als Symbol der Amtsgewalt römischer Magistrate getragen wurden. römischer LiktorenBeamte, die römische Magistrate begleiteten und die Fasces trugen. käme. Niemand wich von seinem Platze, Maeseja und seine Söhne standen erstarrt, und ich hätte um keinen Imperator die Bürde niedergelegt, die meine Brust beschwerte.
Das Thor gab bald nach, und in kurzer Zeit traten römische Soldaten in das Zimmer. Als sie unsre Gruppe erblickten, wichen sie scheu zurück. Der CenturioEin Offizier der römischen Armee, der eine Einheit von etwa 80-100 Mann befehligte. trat vor, und frug, wer von uns Amnon, der Sohn Jojada's sei? Da winkte ich Joseph, er nahm seine Schwester und trug sie auf ein Ruhebett. Hier bin ich. „Im Namen des Imperators, folget mir zum Cäsar." Ich warf keinen Blick zurück auf die Zurückbleibenden, sondern schritt schnell zur Thüre hinaus.